Horizont erweitern
Der folgende Text ist ein Kapitel aus meinem Buch, das demnächst erscheinen wird. Im folgenden Text ist von Kulturkreisläufen die Rede. Dieser Begriff wird auf der selben Webseite unter dem Abschnitt „Buch“ erklärt.
Das Äußere lässt auf das Innere schließen
Walther von der Vogelweide, 1170 bis 1230
Horizont erweitern
Das Bild des Kulturkreislaufes bringt ein völlig neues Verständnis für die Menschheit. Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen. Wir wundern uns immer wieder über religiöses Fehlverhalten in Geschichte und Gegenwart. Wer hat sich nicht schon über die Kreuzzüge, die Hexenprozesse, den dreißigjährigen Krieg und auch über die Islamisten geärgert? Die Kulturkreiszyklen machen diese jedoch leichter verständlich. Es gibt ja die Erkenntnis, dass jede Erscheinung einen Gegenpol hervorruft. Das hohe Niveau der mittelalterlichen Spiritualität und Mystik konnte auf der negativen Seite im religiösen Übereifer zu den unerfreulichen Unmenschlichkeiten führen. Oder in einer Zeit, in der viele Menschen bereit waren für ihren Glauben ihre Heimat zu verlassen oder ihr Leben einzusetzen, führten im Gegenpol die alten Machthaber zu jenem grausigen dreisigjährigen Krieg.
Noch interessanter ist es, die Kriegsbereitschaft der verschiedenen Religionen auf die Kulturkreiszyklen zu beziehen. Hierzu wurden schon Andeutungen im Kapitel „Die verschiedenen Weisen mit der Vorprägung umzugehen“ gemacht. Wir kennen vier große Religionen mit ihrer Entstehungszeit. Das Judentum, den Buddhismus, das Christentum und den Islam. Ein besonders kriegerisches Verhalten zur Erweiterung des eigenen Machtbereiches einschließlich des eigenen Glaubens gibt es jeweils in der ersten Phase. Denn diese erste archaische, magische Phase ist sehr hierarchisch, fundamentalistisch und auf Machtsicherung wie -verbreiterung ausgerichtet.
Religionen, die in einer ersten Phase entstanden sind, wie das Judentum und besonders der Islam, können sich von den aggressiven Seiten der ersten Phase kaum ablösen. Die Verbreitung des Islam geschah im Wesentlichen durch kriegerische Ausweitung. Das entsprach eben der ersten Phase etwa ab dem 6. Jahrhundert n. Chr. und das prägte den Charakter dieser Religion bis heute. Schon in der Entstehung war der Islam in Kriege verwickelt. Und die Ausbreitung geschah dann fast durchwegs durch Kriegszüge. In dieser ersten Phase, also in der Zeit zwischen 500 und 1000, gab es auch im Christentum Phänomene der aggressiven Ausbreitung der Religion. In der zweiten Kulturkreisphase wird der Islam sehr viel toleranter. In dieser Zeit lebte der Philosoph Dschalal ad-Din ar-Rumi. Auch die Geschichte von Nathan dem Weisen ( Bekannt durch das Ideendrama von Gotthold Ephraim Lessing) geht auf diese Zeitphase zurück. Das was wir in den arabischen Ländern und sogar im Kerngebiet der christlichen Kultur durch den Terrorismus erleben, hängt mit der Geburtsphase des Islam zusammen.
Ebenfalls in einer ersten Phase ist das Judentum entstanden. Das waren 2000 Jahre vor dem Islam. Die Geschichte des Judentums ist eine Geschichte der Kriege. Schon im Alten Testament wird von einem Krieg nach dem anderen berichtet. Dabei ging es durchaus auch um die Religion, nämlich ähnlich wie beim Islam um den Monotheismus. Der Monotheismus kann geschichtlich als aggressive Ideologie gedeutet werden. Das Judentum wendete sich dann kriegerisch gegen das Römische Friedensreich, und wurde schließlich von diesem – wie vorher auch schon mehrmals durch andere Herrschaftssysteme – seines Landes verwiesen. Dass der orthodoxe Teil der Juden im Streit um das Land eine so große Macht hat, hängt mit der Geburtsgeschichte der Religion zusammen. Der Fundamentalismus kennt keine Kompromisse.
Der Buddhismus ist in einer zweiten Phase entstanden, vielleicht auch erst am Übergang in die dritte Phase. Die zweite Phase ist mythisch und spirituell. Hier sind alle Dinge göttlich. Diese Phase ist friedensorientiert, obwohl die religiösen und weltlichen Herrscher in dieser Zeit auch öfters als Gegenpol der Menschlichkeit in Erscheinung getreten sind. Man kann aber sagen, dass der Buddhismus über den Lauf der Geschichte die Friedlichkeit und die Menschlichkeit besser bewahrt hat als andere Religionen. Davon lernt zur Zeit auch das Christentum.
Das Christentum ist am Beginn einer vierten Phase entstanden. In einer vierten Phase kann es alles geben aber hier wirkt auch die Weisheit des Alters. Das Christentum hat sich hauptsächlich durch diese Weisheit durchgesetzt. Im Gegensatz zum Judentum hat es normalerweise dem Kaiser das gegeben, was des Kaisers ist, wie Jesus es formuliert hat. Da hat es natürlich auch radikale fundamentalistische Christen gegeben, die dann den Zorn der Regierung auf sich zogen. Aber im Allgemeinen konnte sich das Christentum im Römischen Reich kontinuierlich und friedlich über ganz Europa ausbreiten. Aggressive Expansion ist vor allen in der ersten Phase des christlichen Abendlandes durch die Machtpolitik Karls des Großen bekannt. Die altgriechisch-römische Religion hatte in der vierten Phase des Kulturkreislaufes keine spirituelle Kraft mehr. Heute ist die christliche Kultur in einer ähnlichen Situation wie die damalige altgriechisch römische Religion, das heißt, sie ist spirituell schwach.
Wir haben jetzt 500 Jahre Neuzeit hinter uns. Das war eine dritte Phase. Diese ist gekennzeichnet durch wirtschaftliche und rationale Ausbreitung. Die Besetzung neuer Erdteile und die Kolonisierung fremder Völker ist typisch für diese Charakteristik. Diese dritte Phase geht zu Ende. Wir treten ein in eine vierte Phase. Diese Charakteristik hat uns im Kernbereich der christlichen Kultur (Europa und Amerika) immerhin schon 70 Jahre Frieden gebracht. Die ganze vierte Phase steht uns noch bevor. Wir können also hoffen, dass in dieser das Prinzip der Weisheit immer mehr Bedeutung erfährt.
Unsere Probleme mit dem fundamentalistischen Islam und dem orthodoxen Judentum können sich in dieser kommenden Zeit auflösen, denn die Kraft der vierten Phase wirkt über das Kernland unseres Kulturkreises hinaus. Das kann einige Zeit dauern, wird sich aber umso schneller durchsetzen, je konsequenter wir die Werte leben, welche diejenigen unserer Kultur sind. Das sind die Werte der Menschlichkeit, der Toleranz, der Dialogbereitschaft und der Demokratie.